Auszug aus "Eresh und die zwei Planeten"

Eresh stellt sich vor

Ich bin kleiner und unscheinbarer als die anderen Kinder meines Vaters.

Ich bin größer und auffälliger als die übrigen Kinder meiner Mutter.

Mein Haut und meine Haare schimmern dunkler als die der anderen Kinder meines Vaters.

Meine Augen leuchten in einem helleren Ton als die der übrigen Kinder meiner Mutter.

Ich gelte als plumper und weniger anmutig als die anderen Kinder meines Vaters.

Ich gelte als empfindlicher und weniger robust als die übrigen Kinder meiner Mutter.

Mir wird nachgesagt, ich sei nicht so gebildet und weise wie die anderen Kinder meines Vaters.

Mir wird nachgesagt, ich sei nicht so gewitzt und geschickt wie die übrigen Kinder meiner Mutter.

Meine Abstammung und mein Heim beschämen die anderen Kinder meines Vaters.

Meine Herkunft und meine Eigenheiten befremden die übrigen Kinder meiner Mutter.

 

 

So stehe ich, Eresh, stets zwischen zwei Familien. Ich stehe zwischen zwei Welten, zwischen oben und unten, zwischen Ehre und Hohn – und gehöre nirgendwo richtig dazu.

Schon von klein auf lebe ich in einem Wohnviertel in der glorreichen Metropole Uruk. Unsere Stadtmauer ist die gewaltigste des gesamten Reiches. Sie wurde einst von dem legendären König und Halbgott Gilgamesch errichtet. Wer kennt es nicht, sein Epos, gesungen oder erzählt?

Unser Fluss durchzieht die ganze Stadt und seine Arme sind nach allen Seiten hin ausgebreitet.

Im überragenden Uruk also wohne ich zusammen mit meiner Mutter, meinem Stiefvater sowie dessen Eltern und natürlich meinen Halbgeschwistern in einem ansehnlichen Haus mit Flachdach und Innenhof. Es steht nicht ganz so dicht an dicht mit den anderen Häusern wie jene, in denen die weniger wohlhabenden Bürgerinnen und Bürger wohnen. Darauf sind meine Eltern stolz.

Meine beiden Brüder und meine drei Schwestern sind die Kinder meiner Mutter mit ihrem rechtmäßigen Ehemann. Ich hingegen entstamme einer vorehelichen Liebelei, die Ama mit einem geheimnisvollen Fremden hatte.

Während meine Geschwister unter den Fittichen eines Vaters aufwachsen durften, der an ihrer Seite weilt, den man in der Stadt kennt und respektiert, wird über meinen nur gemunkelt.

Manche Leute vermuten sogar, er habe Flügel besessen. Andere gebieten ihnen, besser darüber zu schweigen. Gäbe es mich nicht, hätte dieses Gerede wahrscheinlich längst ein Ende gefunden. Aber so erinnere ich mein Umfeld tagtäglich daran. Allein durch meine bloße Existenz.

Mein leiblicher Vater … Nun, für mich ist er nicht die obskure Gestalt, nahezu Mythen entsprungen, über die das einfache Volk in der Stadt Klatsch verbreitet und über die Höherstehende hinter vorgehaltener Hand tuscheln. Ich habe ihn schließlich schon zwei Mal gesehen und mit ihm gesprochen.

Das eine Mal besuchte mich mein leiblicher Vater, als ich noch klein war. Doch ich kann mich auch jetzt, als junge Frau im heiratsfähigen Alter, noch gut daran erinnern. Allein meine Mutter und ich waren mitten in der Nacht zu dem abgelegenen Treffpunkt gelaufen. Wie eindrucksvoll Vater damals auf mich neugieriges Kind gewirkt hat! Wie wenig ich zu begreifen vermochte, dass das tatsächlich mein Vater, mein Adda, war!

Das zweite Mal liegt erst zwei Monde zurück. Anders als früher, musste ich völlig allein zum Treffen erscheinen. Vater jedoch wurde, im Gegensatz zu einst, von seinen beiden ältesten Töchtern begleitet. Wir sollten uns schon einmal kennenlernen. Auch sie schüchterten mich ein. Hoch ragten sie auf wie Zedern. Fein und eigenartig muteten ihre Gewänder an. Scheu blickte ich zu ihnen auf.

Vaters Besuch hatte nun einen bestimmten Zweck. Er stellte mich vor eine schwerwiegende Entscheidung: Ich sollte bei seinem nächsten Besuch in elf Monden mit ihm kommen – oder für immer hier bleiben. Hier, bei meiner Mutter und den anderen, und später im Haus meines zukünftigen Ehemanns.

 

Ich habe es meinem Vater bis heute nicht verziehen, dass er mich damals vor so eine radikale Wahl gestellt hat.

 

Teil eins
 

„Was du suchst, wirst du nicht finden. Denn als die Götter den Menschen erschufen, behielten sie die Unsterblichkeit für sich.“

(aus dem Gilgamesch-Epos, ca. 2100-1600 v. Chr., mündliche Überlieferungen älter)

 

1. Schweigen und Schreie

 

„Bei den Göttern! Können wir nicht auch ein Mal durch die Stadt gehen, ohne dass wir wegen dir auffallen?“ Das Mädchen seufzte genervt.

„Seltsam. Ich hatte bisher immer den Eindruck, dass du gerne auffällst“, konterte Eresh in sarkastischem Tonfall.

Bei Weitem nicht zum ersten Mal fand dieser Wortwechsel zwischen Eresh und ihrer um zwei Jahre jüngeren Halbschwester statt. Wenigstens verstand sie sich mit ihren beiden anderen jüngeren Halbschwestern etwas besser als mit Maschdara, meist kurz Dara genannt.

„Es ist schlichtweg peinlich, dass dich ständig jemand angafft. Ob wir nun zum Markt gehen, wie jetzt, oder sonst wohin.“ Dara rollte mit den Augen.

„Vielleicht hat dieser Bauernbursche aber auch dich angeschaut“, schaltete sich ihre Mutter besänftigend ein, indem sie sich kurz zu ihnen umdrehte. Sie ging den beiden Mädchen voraus durch das Stadt-Getümmel von Uruk. „So hübsch wie du geworden bist“, beschwichtigte sie ihre Tochter.

„Ja, gewiss“, erwiderte Dara übellaunig. Sie lachte ihre ältere Halbschwester zynisch an. „Du solltest dich verschleiern, Eresh.“

„Das sehe ich gar nicht ein“, begehrte Eresh gleich auf. „Ich bin 16 und keine alte Witwe!“ Sie liebte es schließlich genauso wie viele andere jungen Mädchen auch, ihr Haar schön zu frisieren, Schminke aufzulegen und Gewänder nach der neusten Mode zu tragen.

In Wahrheit kam es nicht oft vor, dass sie einmal ein Mann mit offenkundigem Interesse musterte. Noch seltener, dass sie ein junger Bursche ansprach. Verstohlene Blicke gab es dafür umso mehr. Das verhinderte die unsichtbare Mauer zwischen Eresh und anderen Leuten nicht. Nein, sie förderte die Blicke sogar.

„Schaut nur, der Weiße Tempel leuchtet gerade besonders schön im Sonnenlicht.“ Ihre Mutter versuchte offenbar, abzulenken.

Eresh hielt sich schützend eine Hand über die Augen, so hell wurde das gleißende Sonnenlicht vom Weißen Tempel reflektiert. Tatsächlich ließ sie sich vom Anblick des monumentalen Heiligtums des höchsten Gottes An stets aufs Neue in seinen Bann ziehen. Schließlich diente der Weiße Tempel, über einer zwölf Meter hohen Terrasse aus Lehmziegeln aufragend, der Beobachtung der Gestirne. Und nichts faszinierte Eresh mehr als der Sternenhimmel.

„Wenn wir den Weißen Tempel schon so nah sehen können, ist es wenigstens nicht mehr weit bis zum Markt“, brummte Dara.

Eresh und ihre beiden Verwandten gingen weiter durch die Straßen von Uruk. Sie zogen durch die engen Gassen und zuweilen auch durch breite Straßen mit ihren zart ockergelb schimmernden Gebäuden. Die meisten Häuser wiesen eine kleine Luke kurz unter dem Dach auf und die Fassaden keine Verzierungen. Das war den besonderen Bauten vorbehalten, ob sakral oder profan.

Eresh, ihre Mutter und Schwester trugen je einen Korb, um darin die Markteinkäufe zu verstauen. Mitunter wurde auch die Bedienstete Aya auf den Markt geschickt. Doch häufig wollte ihre Mutter lieber selbst die Waren begutachten und nahm zwei ihrer vier Töchter mit.

Eresh und die anderen hatten beständig das Klackern der Töpferscheiben in den Ohren. In diesem Viertel wurden im Minutentakt Schüsseln, Krüge und weiteres aus Ton gefertigt. Es gab hier aber auch Manufakturen für andere Produkte, wie Flechtwerk, Werkzeuge oder Kleidung.

„Ich habe Hunger“, murrte Dara. „Wir sollten etwas zusammen essen.“

Eresh musste grinsen. Ausnahmsweise war sie mal einer Meinung mit ihrer Schwester. Ihr Magen knurrte wie ein Berglöwe.

Kein Wunder, gerade hatten sie eine der großen Garküchen passiert. Dort kochten und buken Frauen besonders zur Mittagszeit riesige Mengen an Speisen. Das Essen wurde von Vorarbeitern abgeholt, die es dann zusammen mit Bier an jene Männer austeilten, die sich auf den Baustellen oder in den Manufakturen abrackerten. Selbst jetzt, nach dem Mittag, duftete es noch in der ganzen Straße appetitanregend nach Bohneneintopf, gebratenem Fisch mit Knoblauch und mit Fett abgeschmecktem Getreidebrei.

„Wir sind gleich auf dem Markt“, wandte sich ihre Mutter an Eresh und ihre Schwester Maschdara. „Dort können wir uns eine Schale Linseneintopf genehmigen.“

 

*
 

Es schien, als habe sich hier auf dem Markt alles an Staub, unterschiedlichsten Gerüchen, Gewusel, Stimmengewirr, Höflichkeit, Freundlichkeit, Gleichgültigkeit, Frechheit und Feindseligkeit versammelt, was die Stadt nur aufbieten konnte.

Obgleich Eresh regelmäßig mit ihren Verwandten hierher kam, bot der Markt von Uruk doch immer wieder etwas Neues, Aufregendes. Aktuell staute sich die Menschenflut zwischen den Ständen, sodass sie kurz warten mussten.

„Talismane! Amulette!“, rief ein kahlköpfiger Händler mit sonnengegerbter Haut am Stand neben ihnen. „Talismane und Amulette für jede erwünschte Wirkung! Ihr möchtet Schutz vor den Sieben Bösen Dämonen, dem Pestgott Erra oder vor Utukku, bösen Geistern?“ Mit schmeichelndem Grinsen sah er auch Eresh, ihre Mutter und Schwester ein paar Momente an. „Ihr wünscht euch das Herz eines noblen Mannes? Erstrebt ihr vielleicht mehr Wohlstand? Zu all dem können euch meine Talismane und Amulette verhelfen! Kommt herbei und sichert euch eines, bevor sie alle weg sind!“

Eresh musste schmunzeln. Maschdara wollte bereits näher an den Stand herantreten, als der Stau sich löste und ihre Mutter sie an der Hand weiterzog.

Bald erreichten Eresh und ihre Verwandten einen Imbiss, an dem eine wohlgenährte Matrone mit rot glänzenden Wangen drei verschiedene Eintöpfe und Brotfladen anbot. Ihre Mutter wählte mit einem gewissen Stolz im Gesicht den teureren mit Linsen und einem Hauch kostbaren Honig. Gemeinsam aßen sie im Schatten der Palmen. Grünflächen mit Palmen und anderen Bäumen durchzogen die Stadt, boten Grün und Kühl.

Danach kamen sie an einen Stand, auf dem sich die dunkel glänzenden Datteln, prallen grünen Feigen, Aprikosen in den Farbtönen eines Sonnenuntergangs und reife Quitten nur so stapelten. Sie verströmten einen fruchtig frischen Duft, begleitet von verlockender Süße. Hier kauften sie einiges ein. Ebenso am Stand einige Schritte weiter, wo es stark gesalzenen Schafskäse gab. Städter wie Eresh und ihre Familie kauften den Großteil ihrer täglichen Nahrung ein. Die Landbevölkerung war dafür zuständig.

Kaum waren Eresh und ihre Verwandten im Begriff, den Markt wieder zu verlassen, drangen Schreie zu ihnen. „Kommt, rasch weiter. Ich möchte, dass wir dem aus dem Weg gehen“, sagte ihre Mutter.

Die Schrei wurden jedoch lauter, als die Drei an einer der kleineren Kultstätten für die Göttin Inanna vorbei kamen. Sie klangen klagend, und laut wurden in einer verwandten Sprache wohl Götter um Hilfe angerufen.

Wenige Augenblicke später sah Eresh sie auch schon um die Ecke kommen. „Kriegsgefangene“, sprach sie mehr zu sich selbst.

Eine kleine Truppe sumerische Soldaten schleifte vier leicht ausländisch aussehende Männer mit gefesselten Gliedmaßen mit sich. Die Geschundenen waren nackt, nur mit Straßenstaub bekleidet, während die Soldaten leicht spitz zulaufende Helme trugen und Umhänge, die über der Brust mit einer Brosche zusammengehalten wurden.

„Schnell, weiter!“, mahnte ihre Mutter sie. Für manche mochte solch ein Spektakel sehenswert sein, für andere überhaupt nicht.

Eresh zwang sich, die Kriegsgefangenen nicht anzuschauen und eilte mit ihren Verwandten weiter, als sie beinahe hingefallen wäre. Eine Hand hielt ihren Knöchel umklammert. Entsetzt sah Eresh zu dem Kriegsgefangenen hinab. Erst jetzt fielen ihr all seine Wunden auf.

„Du bist eine von ihnen, nicht wahr?“ Sein Sumerisch wies einen Akzent auf. Mit geweiteten Augen starrte er sie an. „Oh gib mir deinen Segen! Ich bin des Todes. Erfülle mir diesen letzten Wunsch!“

Eresh wusste nicht, was sie erwidern, wie sie reagieren sollte. Nervös blickte sie zwischen dem Mann auf dem Boden und ihrer Mutter hin und her.

Da trat einer der Soldaten den Kriegsgefangen so fest in die Seite, dass er Ereshs Knöchel wieder losließ.

Beklommen gingen Eresh, ihre Schwester und Mutter weiter, zurück nach Hause – schweigend.

 

© Urheberrecht. Alle Rechte vorbehalten.

Wir benötigen Ihre Zustimmung zum Laden der Übersetzungen

Wir nutzen einen Drittanbieter-Service, um den Inhalt der Website zu übersetzen, der möglicherweise Daten über Ihre Aktivitäten sammelt. Bitte überprüfen Sie die Details in der Datenschutzerklärung und akzeptieren Sie den Dienst, um die Übersetzungen zu sehen.